Betroffene waren teilweise enttäuscht als im Juli 2024 bekannt geworden ist, dass der Bundesgerichtshof (BGH) das Sportwetten-Verfahren I ZR 90/23 gegen Tipico aussetzt und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Vorabentscheidung vorlegt. Ein schlechtes Zeichen für Rückforderung ist diese Entscheidung aber keineswegs. Im Gegenteil: spätestens seit Veröffentlichung des schriftlichen BGH-Beschlusses ist klar, dass die juristischen Chancen für Betroffene nur noch weiter gestiegen sind.
Denn der BGH hat dem EuGH nicht nur Fragen gestellt, sondern auch seine eigene Rechtsauffassung ausführlich kundgetan. So geht der BGH selbst davon aus, dass der Anspruch auf Rückzahlung nach deutschem und auch nach europäischem Recht und der Rechtsprechung des EuGH besteht. Und selbst dann, wenn der EuGH die Vorlagefragen für Kläger negativ beantworten würde, könnte dieser Fall nur eine kleine Zahl von Fällen betreffen - die meisten Klagen würden also weiter positiv entschieden werden.
Entsprechend dürfte die nun längere Verfahrensdauer das einzige Ärgernis für jetzige und künftige Kläger sein. Trotzdem muss jetzt erstmal auf den EuGH gewartet werden. Das Gute ist: durch eine Klageeinreichung wird die Verjährung gestoppt und der Anspruch mit 5% über dem Basiszinssatz pro Jahr verzinst.
Darf man Autofahren, wenn man alle Voraussetzungen für einen Führerschein erfüllt, der "Lappen" aber noch nicht erteilt wurde? Schließlich hält man sich ja immer an die Verkehrsregeln, hat auch alle Prüfungen bestanden und Gebühren bezahlt. Und nur weil die Behörde einen Fehler gemacht hat, soll man jetzt nicht losfahren dürfen?
Dieses Bild beschreibt die Lage bei Online Sportwetten bildhaft präzise. Tipico hatte nämlich bereits im Jahr 2012 eine Lizenz beantragt, sie aber wegen der fehlerhaften Durchführung des deutschen Konzessionsverfahrens bis Oktober 2020 nicht erhalten. Trotzdem war Tipico mit Vollgas auf der Überholspur unterwegs - von den knapp 50 Mrd. Euro Umsatz, welchen Wettanbieter zwischen 2014-2020 in Deutschland verbuchen konnten, dürfte auch ein guter Anteil an Tipico entfallen sein.
Im vorliegenden Verfahren I ZR 90/23 geht es nun maßgeblich um die Frage, oRückzahlungsanspruch entgegensteht. Nach dem Motto: weil Tipico die Lizenz eigentlich hätte bekommen müssen, ist der Vertrag zwischen Kunde und Tipico gültig. So hatte es, als bislang einziges Oberlandesgericht, im Januar 2023 auch das OLG Frankfurt gesehen. Der BGH selbst vertritt allerdings eine andere Auffassung: die obersten Zivilrichter gehen nämlich in dem 32-seitigen Beschluss davon aus, dass der Vertrag nach deutschem Recht nichtig ist und der Kläger einen Anspruch auf Rückzahlung hat. Diese Schlussfolgerung resultiere auch aus der Interpretation des Europarechts und der Rechtsprechung des EuGH selbst. Die Frage ist letztlich nur, ob die Dienstleistungsfreiheit der EU dem entgegensteht. Und hierüber muss der EuGH entscheiden.
Die Dienstleistungsfreiheit der EU ermöglicht es Unternehmen und Einzelpersonen, Dienstleistungen in jedem EU-Mitgliedstaat frei anzubieten und zu erbringen, ohne dabei auf diskriminierende oder unrechtmäßige Beschränkungen zu stoßen. Grundsätzlich ist also jedes in einem Mitgliedsstaat zulässige Geschäft erlaubt, solange es nicht durch zulässige Vorschriften anderer Mitgliedsstaaten in diesen verboten ist. Das Anbieten von Online Casinos war in Deutschland bis zum Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV) 2021 grundsätzlich verboten ("Total-Verbot"), während Online Sportwetten erlaubnispflichtig, also an Bedingungen geknüpft waren. Diese Bedingungen, wie z.B. ein Einzahlungslimit von 1.000€ oder das Verbot von illegalen Live-Wetten, wurden von Tipico und Co. allerdings in der Regel nicht eingehalten. Es liegt nun am EuGH zu prüfen, ob ein Anspruch auf Rückzahlung bei unerlaubten Sportwetten auch dann besteht, wenn die Lizenz zwar beantragt, jedoch nicht erteilt war - oder ob die Dienstleistungsfreiheit eine andere Beurteilung gebietet.
In seinen Vorlagefragen möchte der BGH vom EuGH wissen, ob Kunden in Deutschland gegen Tipico und Co. einen Anspruch aus dem Bereicherungsrecht (§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB) und dem Deliktsrecht (§ 823 Abs. 2 BGB) haben, auch wenn eine deutsche Lizenz im Zeitraum der Wettangebote zwar beantragt, aber noch nicht erteilt war.
Konkret lauten die Fragen wie folgt:
1. Schließt es die Dienstleistungsfreiheit eines Glücksspielanbieters mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union aus, einen über das Internet geschlossenen privatrechtlichen Vertrag über Sportwetten, die ohne die hierfür nach dem nationalen Recht erforderliche Erlaubnis angeboten wurden, als nichtig zu betrachten, wenn der Anbieter in Deutschland eine Erlaubnis für die Veranstaltung von Sportwetten beantragt hatte und das für diesen Antrag geltende Verfahren auf Konzessionserteilung unionsrechtswidrig durchgeführt wurde?
2. Schließt es die Dienstleistungsfreiheit eines Glücksspielanbieters mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union aus, das nationale Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zur Veranstaltung von Sportwetten im Internet als Schutzgesetz mit der möglichen Folge einer Schadensersatzpflicht zu betrachten, wenn der Anbieter in Deutschland eine Erlaubnis für die Veranstaltung von Sportwetten beantragt hatte und das für diesen Antrag geltende Verfahren auf Konzessionserteilung unionsrechtswidrig durchgeführt wurde?
Gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 BGB ist zur Herausgabe verpflichtet, wer "durch die Leistung eines anderen oder in sonstiger Weise auf dessen Kosten etwas ohne rechtlichen Grund erlangt". Bei Rückforderungen von Casino- und Sportwetten-Verlusten bedeutet dies, dass ein Rückzahlungsanspruch davon abhängt, ob der Vertrag zwischen Kunde und Wettanbieter gem. § 134 BGB nichtig ist. Der BGH sieht diese Nichtigkeit nach deutschem Recht gegeben und möchte nun klären lassen, ob dies auch nach europäischem Recht zulässig ist.
§ 823 Abs. 2 BGB gehört zum Deliktsrecht, einem Teilbereich des Zivilrechts, der die rechtlichen Folgen unerlaubter Handlungen regelt. Wer gegen Gesetze verstößt – in diesem Fall die Wettanbieter – ist verpflichtet, den Schaden zu ersetzen, der den geschützten Personen – hier den Spielern – durch den Gesetzesverstoß entsteht, wie zum Beispiel Spielverluste. Bereits in der mündlichen Verhandlung im Juni 2024 deutete der BGH an, dass Tipico eine solche unerlaubte Handlung begangen haben könnte und somit § 823 Abs. 2 BGB grundsätzlich anwendbar ist. Ansprüche aus dem Deliktsrecht unterliegen einer Verjährungsfrist von zehn Jahren.
Im Verfahren I ZR 90/23 trug der Kläger in den unteren Instanzen (AG Geislingen und LG Ulm) wohl vor, dass Tipico keine gültige Lizenz besaß, wodurch das Angebot "formell illegal" war. Hingegen wurde offenbar nicht (rechtzeitig) dargelegt, dass die gesetzlichen Anforderungen für eine deutsche Lizenz auch inhaltlich ("materiell") nicht erfüllt wurden. Nach dem Glücksspielstaatsvertrag waren Anbieter wie Tipico verpflichtet, unter anderem ein Einsatzlimit von 1.000€ pro Spieler und Monat zu gewährleisten, unzulässige Live-Wetten zu unterlassen und die Angebote von Online-Sportwetten und Online-Casino-Spielen klar voneinander zu trennen. Angebote, die gegen diese Vorgaben verstießen, waren nicht nur "formell illegal", sondern auch "materiell nicht erlaubnisfähig". Es ist nachgewiesen, dass alle großen Anbieter, einschließlich Tipico, ihre damals bestehenden Angebote nicht entsprechend den gesetzlichen Vorgaben ausgestaltet hatten. Da dies in den unteren Instanzen jedoch nicht thematisiert wurde und Gerichte im Zivilrecht nur die von den Parteien vorgetragenen Tatsachen berücksichtigen dürfen, muss der BGH im Verfahren I ZR 90/23 davon ausgehen, dass die gesetzlichen Vorgaben (außer der Erlaubnispflicht) eingehalten wurden. Im Zivilrecht zählt nämlich nicht die "materielle Wahrheit", sondern lediglich das, was die Parteien im Prozess ausdrücklich vortragen und nachweisen.
In seinem Beschluss machte der BGH jedoch deutlich, dass er allein aufgrund der "formellen Illegalität" des Angebots von Tipico grundsätzlich davon ausgeht, dass die Wettverträge mit den Spielern nichtig waren und diese ihre Verluste zurückfordern können. Die endgültige Klärung soll jedoch der EuGH übernehmen.
Allerdings macht der BGH deutlich, dass auch eine anbieterfreundliche Entscheidung des EuGH zu den Folgen der "formellen Illegalität" nicht zwingend bedeuten würde, dass Tipico die Wettverluste am Ende nicht doch erstatten muss. Können Rückforderungen also weiter erfolgreich sein, auch wenn der EuGH eine "negative" Entscheidung trifft? Im Beschluss heißt es dazu:
"[Der Kläger und Tipico streiten im Revisionsverfahren] darüber, ob [Tipico] die spielerschützenden Regelungen des materiellen Glücksspielrechts gegenüber dem Kläger eingehalten hat. Das Berufungsgericht hat dazu keine Feststellungen getroffen [...]. Führt nicht bereits der Umstand, dass die Beklagte nicht über die erforderliche Konzession verfügt hat, zur Nichtigkeit der mit dem Kläger geschlossenen Sportwettenverträge, wird das Verfahren an das Berufungsgericht zurückzuverweisen sein, damit diese Feststellungen nachgeholt werden können."
Der BGH deutet also an, dass er die Klage gegen Tipico wohl selbst dann nicht abweisen wird, wenn der EuGH die nun vorgelegten Fragen zugunsten von Tipico beantwortet. Vielmehr wird das Verfahren dann voraussichtlich an das LG Ulm zurückverwiesen, damit dieses feststellen kann, ob Tipico z.B. gegen Vorschriften zum Einsatzlimit, zu Live-Wetten und zur Trennung von Sportwetten- und Casino-Angeboten verstoßen hat. Ehemalige Kunden von Tipico können bereits erahnen, was das LG Ulm in diesem Fall voraussichtlich feststellen würde - nämlich, dass Tipico die gesetzlichen Vorgaben nicht eingehalten hat und das Angebot daher auch "materiell illegal" war. Dies werden die Anwälte des Klägers bei einer Zurückverweisung allein durch Screenshots, archivierte Webseiten und Transaktionslisten nachweisen können - wie bereits in zahlreichen anderen Verfahren gegen Tipico. Die Klage des Spielers müsste daher im Ergebnis auch dann erfolgreich sein, wenn der EuGH die ihm nun vorgelegten Fragen zugunsten der Wettanbieter entscheidet.
Wenn für den BGH offenbar alles so klar ist - wieso legt er das Verfahren dann trotzdem dem EuGH vor? Hätte das nicht einfach in Karlsruhe entschieden werden können? Leider nein. Der BGH ist als letztinstanzliches Zivilgericht in Deutschland zu solchen Vorlagen verpflichtet, wenn ein Fall auch das europäische Recht betrifft. Hätte der BGH entgegen seiner Verpflichtung nicht vorgelegt und Tipico unmittelbar zur Rückzahlung verurteilt, hätten die Anwälte von Tipico dagegen eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht einlegen können.
Durch die Aussetzung ist es durchaus wahrscheinlich, dass nun einige Gerichte laufende Verfahren ebenfalls aussetzen, um eine Entscheidung des EuGH abzuwarten. Dadurch wird sich die Verfahrensdauer für die meisten Verfahren wohl verlängern. Wie lange es bis zu einer EuGH-Entscheidung dauert, lässt sich nicht vorhersagen, es werden aber jedenfalls mehrere Monate sein.
Wie aber schon nach der Aussetzung des Online Casino Verfahrens I ZR 53/23 - Stichwort Rechtssache C-440/23 - ist auch im vorliegenden Sportwetten-Fall nicht davon auszugehen, dass nun flächendeckend Verfahren ausgesetzt werden. Konkret wurden bislang nur etwa 17% der von unserer Kanzlei geführten Online Casino Verfahren auf Eis gelegt, die restlichen laufen weiter und werden weiter entschieden. Es kann also gut sein, dass eine Menge laufender Fälle schon von den Instanzgerichten entschieden sein werden, wenn die Entscheidung des EuGH ergeht - in diesem Fall dürfte es bis zur finalen Rechtskraft dann relativ schnell gehen. Erst die kommenden Wochen werden zeigen, wie die deutschen Gerichte zur Aussetzung in Sportwetten-Verfahren stehen.
Die Aussetzung ist also sicherlich ein Zeitgewinn für Tipico und Co., könnte aber letztlich ein Geldgewinn für Kläger sein: denn erstens wird die Verjährung durch die Klageeinreichung gehemmt (es geht also kein Geld verloren), zweitens wird die Klagesumme in Gerichtsverfahrens mit 5% über dem Basiszinssatz pro Jahr verzinst.